Lawyer Well-being: Von „Bist du verrückt?“ zum „Corporate Health Award – Sonderpreis Legal“ in vier Akten.

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Lange Arbeitszeiten, in denen viel Leistung und Engagement gefordert werden. Der Zwang zur ständigen Problemlösung. Viel Stress seit dem Studium. Noch dazu soll man immer als Fels in der Brandung einen kühlen Kopf bewahren. All das beschreibt das tägliche Arbeitsleben in der Rechtsbranche. Selten wird offen über die mentale Gesundheit gesprochen oder darüber nachgedacht. Das Team rund um den Sonderpreis Legal des Liquid Legal Institute beschreibt in ihren Beitrag, warum die Enttabuisierung der mentalen Gesundheit besonders wichtig ist und welche Rolle dabei der neue Sonderpreis spielt.

Akt I: Warum Lawyer Well-being? Bei uns Jurist:innen ist doch alles gut, oder?

Bernhard Waltl, Liquid Legal Institute

„Bist du verrückt – Mental Health ist doch bei Jurist:innen kein Thema!“. So, oder so ähnlich, könnten Antworten auf die lapidare Frage lauten, wie es um den (psychischen) Gesundheitszustand von Jurist:innen steht. Mit dieser Haltung steht die Profession nicht allein da. Es ist eine natürliche spontane Reaktion auf die Frage zu einem oft tabuisierten Thema, die einen sehr sensiblen Lebensbereich von hochausgebildeten Expert:innen berührt.

Schon im Studium stehen angehende Jurist:innen überdurchschnittlich stark unter Stress. Mag das Grundstudium harmlos sein, so stellt sich spätestens ab Beginn der Examensvorbereitungen ein starker und langanhaltender Druck ein. Das Studium ist nach wie vor sehr individualistisch geprägt, es gibt wenig verschulte Vorgaben, die Orientierung bieten. Selbstdisziplin ist die Kompetenz der Stunde. Um auf Nummer sicher zu gehen, suchen viele Examenskandidaten die Unterstützung eines Repetitors. Das kostet dann nicht nur zusätzliche Zeit und Energie, sondern auch noch viel Geld. Die Angst vor einer schlechten Note im Examen, die unwiderruflich über die weitere berufliche Zukunft entscheidet, steht über allem, ein Plan B ist selten vorhanden. Damit fühlt sich auch jeder in seinem Kampf allein.

Roger Strathausen

Roger Strathausen

Ist die Ausbildung dann doch geschafft, stellt die Praxis die Jurist:innen vor neue Herausforderungen. Sie wurden jahrelang darin trainiert, rechtliche Probleme zu erkennen und Lösungen vorzuschlagen. Nun aber werden sie darauf getrimmt, auch unter Hochdruck einen „kühlen Kopf“ zu bewahren, Mandanten in kritischen Fragestellungen – zunächst einmal – das Gefühl von Sicherheit zu geben, bei Verhandlungen das Poker Face aufzusetzen und – falls erforderlich – auch mal gegen den eigenen moralischen Kompass zu agieren. Jurist:innen sollen immer einen Ausweg sehen, jederzeit als Ratgeber:in ansprechbar sein und als Fels in der Brandung zur Verfügung stehen, um Mandant:innen sicher und natürlich möglichst unversehrt durch den juristischen Dschungel zu geleiten. Es geht um die Verantwortung für die Interessen anderer, oft in prekären Situationen. Für eigene Ängste, Schwächen, Zweifel, Unsicherheiten bleibt da wenig Raum.

Der Beruf der Jurist:in bietet somit zahlreiche Risiken für die psychische Gesundheit. Seit ein paar Jahren kommen jetzt noch Druck und Unsicherheit hinzu, die mit der Digitalisierung einhergehen. Die Kommunikationsaufwände steigen, wir werden überrollt von Dokumenten und Daten, und uns begleitet das latente Risiko veralteter IT-Systeme.

Hand aufs Herz:

  1. Wie viele Stunden verbringen Sie pro Woche in virtuellen Meetings?
  2. Wie viele E-Mails bekommen und schreiben Sie täglich?
  3. Wie viele Seiten PDF-Dokumente bekommen Sie jeden Tag “zur Kenntnisnahme” zugeschickt? Und wie viele davon lesen Sie wirklich?
  4. Wie viele Stunden verbringen Sie täglich mit repetitiven Aufgaben, weil Sie Ihre IT-Systeme unzureichend unterstützen?
  5. Wie oft wird Ihre Erholung am Feierabend (falls vorhanden) oder am Wochenende (falls vorhanden) durch die – durch Technologie ermöglichte – ständige Erreichbarkeit unterbrochen oder gestört?

Die Digitalisierung ist ein Brandbeschleuniger für die Verschlechterung des Gesundheitszustands der Jurist:innen, und über COVID haben wir noch gar nicht gesprochen. Die psychische Überforderung ist vorprogrammiert – und dennoch: Über die mentale Gesundheit der Jurist:innen wird kaum gesprochen, sie wird vorausgesetzt.

Fazit I: Durch ihre Tätigkeiten und die an sie gerichtete Erwartungshaltung sind Jurist:innen psychischen Gesundheitsrisiken ausgesetzt.

Akt II: Wie steht es denn um den Gesundheitszustand von Jurist:innen?

Jutta Loewe

Seit den 1990ern zeigen Studien zur psychischen Gesundheit von Anwälten und Anwältinnen in den USA ein alarmierendes Bild: sie sind notorisch überrepräsentiert bei psychischen Erkrankungen. Selbstmord stand im Jahr 2006 an dritter Stelle der Todesursachen unter Anwälten – nach Krebs und Herzinfarkt. Sie leben mit einer dreifach erhöhten Wahrscheinlichkeit für Suchterkrankungen und waren fast sechsfach häufiger von Selbstmord betroffen als der Bevölkerungsdurchschnitt. Die Situation hat sich bislang kaum verbessert, wie die American Bar Association in einer großangelegten Studie mit 13 000 Teilnehmern im Jahr 2016 feststellt: „(B)etween 21 and 36 percent qualify as problem drinkers, and approximately 28 percent, 19 percent, and 23 percent are struggling with some level of depression, anxiety, and stress.“

Kai Jacob

Jetzt könnte man sich die Ergebnisse noch schönreden und argumentieren, dass es sich hierbei um eine Studie aus dem angloamerikanischen Bereich handelt und dass es für Europa oder für den deutschsprachigen Bereich noch keine belastbaren Zahlen gibt. Informationen zu Suiziden unter Jurist:innen liegen für den deutschsprachigen Raum nicht vor, bzw. diese Berufsgruppe erscheint nicht in vorliegenden Statistiken. Auch hinsichtlich psychischer Erkrankungen oder konkreter stressbedingter Belastungen in der Arbeitswelt gibt es nur wenige Erhebungen, die diese berücksichtigen.

Im Gespräch mit Dr. Dierk Schindler, (Gründer und Co-CEO LLI, VP in der Rechtsabteilung der Robert Bosch GmbH) bringt Fritjof Nelting (CEO Gezeiten Haus Gruppe) das Thema auf den Punkt: „Sie sind der erste Jurist, mit dem ich über mentale Gesundheit rede, der nicht auch Patient bei mir ist.“

Spätestens seit diesem Treffen war klar, es musste etwas passieren. Das Thema braucht mehr Aufmerksamkeit. Hierzu hat das Liquid Legal Institute in den letzten Monaten einen Arbeitsschwerpunkt gesetzt: Zunächst wurde eine kleine, nicht repräsentative Umfrage gestartet und die Ergebnisse in einem Bericht veröffentlicht. Darin geben über 60% der Jurist:innen an, mindestens einmal in ihrem Leben „work-related mental health Problems“ bei sich erlebt zu haben. Über 70% gaben an, dass sie Kolleg:innen kennen unter „work-related mental health Problems“ leiden. Darüber hinaus sind sich mehr als 80% der Befragten einig, dass das Thema Laywer Well-being mehr Aufmerksamkeit und soziale Beachtung braucht.

Auf dieser Basis wurde gemeinsam mit bedeutenden Partnern, darunter dem Bundesverband der Unternehmensjuristen und EUPD Research, im deutschsprachigen Raum eine Studie durchgeführt, die ähnliche Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand von Jurist:innen erlaubt. Die Ergebnisse aus der großen Studie werden aktuell ausgewertet und sind Anfang 2022 öffentlich verfügbar. Wichtig ist der Schritt, dass die etablierten Verbände und Vereinigungen das Thema erkennen und – im Sinne Ihrer Mitglieder:innen – ernst nehmen. Damit darf aber das Thema nicht als abgehandelt betrachtet werden, sondern es müssen konkrete Taten folgen und Maßnahmen abgeleitet werden, um den Status Quo zu verbessern.

Fazit II: Lawyer Well-being ist ein ernstzunehmendes Thema, und die bisherigen Ergebnisse erlauben kein Schönreden. Die Tabuisierung muss aufhören.

Akt III: Corporate Health Award Sonderpreis „Legal“

Diane Manz

Diane Manz

Die Studienergebnisse bestätigen, was in anderen Regionen der Erde schon seit Jahren als „common sense“ gilt. Doch damit dürfen wir es nicht belassen.  Dies ist angesichts der Sensibilität und Vielschichtigkeit der Thematik einfacher gesagt als getan. In mehreren Arbeitssitzungen zum Projekt und im Austausch mit Innovatoren konkretisierte sich die Idee, das Thema zu enttabuisieren, indem man Unternehmen anbietet, sich damit neutral und offen auseinanderzusetzen. Der non-profit Verein LLI ist hierzu eine ideale Plattform – und es geht sogar noch mehr. Durch den Impuls des LLI Vereins- und Aufsichtsratsmitglieds Zoë Andreae, der Geschäftsführerin der Lecare GmbH, wurde gemeinsam mit der Corporate Health Initiative ein sogenannter der Sonderpreis „Legal“ als Corporate Health Award (CHA) initiiert. Hierzu werden Unternehmen eingeladen und aufgefordert, ihre Perspektive und ihre Maßnahmen für die Mitarbeiter:innen im Rechtsbereich zu beschreiben und darzulegen. Eingeladen sind alle Unternehmen der Rechtsbranche, darunter auch (Legal Tech) Start-ups, KMUs, große Unternehmen, öffentliche Ämter und Behörden, etc. Eine unabhängige Jury bewertet die Bewerbungen, auditiert die eingereichten Unterlagen und führt Interviews, falls erforderlich. Die Gewinner können sich über die Verleihung des Corporate Health Award Sonderpreis „Legal“ freuen.

Die erste Resonanz auf die erste Auflage des Sonderpreises „Legal“ war sehr gut und ist ein wichtiger erster Schritt in Richtung Enttabuisierung. Unternehmen haben damit einen zusätzlichen Anreiz, über das Thema nachzudenken und es für sich zu entdecken. Gemeinsam mit unseren Partnern arbeiten wir an weiteren Angeboten für Unternehmen, darunter auch ein Siegel für Rechtsabteilungen, das deren Engagement und Leistungen für Well-being sichtbar macht. Wir hoffen, dass diese Angebote dazu beitragen, dass das Thema stärker in den Fokus genommen wird, sodass am Ende die Jurist:innen, also die Menschen, die eigentlichen Gewinner sind.

Fazit III: Wir schaffen positive Anreize, sodass sich Unternehmen mit dem Thema auseinandersetzen können. Der Sonderpreis „Legal“ als Corporate Health Award und die Schaffund eines Siegels für Rechtsabteilungen sind Beiträge des LLIs und seiner Partner die hierauf einzahlen.

Akt IV: Wie machen wir weiter? Gemeinsam!

Dierk Schindler

Wir erbringen objektive Nachweise für ein hoch-relevantes Thema. Es geht um nicht weniger als um den Menschen hinter der Rolle “Jurist:in” und seine Position in der modernen Arbeitswelt.  Studienergebnisse und Awards sind aber nur Schritte auf einem langen Weg, den keiner auf sich allein gestellt beschreiten kann. Das LLI lädt, mit all seinen (zukünftigen) Partnern, dazu ein, die nächsten Schritte gemeinsam zu gehen. Wir erwarten, dass es zu größeren Nachfragen in dem Bereich kommen wird, denn Unternehmen werden jetzt erst für dieses Problem sensibel gemacht. Es muss aber auch ein Angebot für Fort- und Weiterbildungen geschaffen werden, damit sich hier auch tatsächlich und nachhaltig etwas verändern kann. Des Weiteren dürfen die Erkenntnisse und Überlegungen nicht nur an die Unternehmen herangetragen werden, sondern auch die Universitäten können und sollen einen Beitrag im Rahmen der Ausbildung ihrer Studierenden leisten. Und nicht zuletzt braucht es noch weitere zuverlässige Datenpunkte durch Interviews, Studien, Umfragen, etc., um das Thema und die Ursachen noch besser zu verstehen und zielgenaue Maßnahmen zu ergreifen.

Wir wissen nicht, was die Zukunft bringen wird, aber wir sind uns einig, dass wir eine lebenswerte Zukunft schaffen möchten, in der Arbeit Spaß und nicht krank macht, und die Raum für persönliche Entwicklung und Entfaltung lässt. Diese Zukunft wartet nur darauf, gestaltet zu werden – und zwar gemeinsam! LIQUID!

Fazit IV: Die Bemühungen in dem Bereich dürfen nicht enden. Wir müssen gemeinsam daran weiterarbeiten, auch in Zukunft lebenswerte und artgerechte Arbeitsbedingungen am Rechtsmarkt vorzufinden.

Jahres Corporate Partner

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