So kann künstliche Intelligenz Jurist:innen produktiver machen
21. Oktober 2025
Ein Gespräch mit Legal Tech-Pionierin Sophie Martinetz
Sophie Martinetz gilt als eine der prägenden Stimmen für die Digitalisierung der Rechtsbranche im deutschsprachigen Raum. Die Juristin, Gründerin der Plattform Future-Law und Direktorin des Legal Tech Centers an der Wirtschaftsuniversität Wien kombiniert wissenschaftliche Analyse mit praktischer Anwendung. Im Gespräch erklärt sie, wie Künstliche Intelligenz (KI) den juristischen Alltag verändert, warum gerade kleinere Kanzleien aufpassen müssen – und weshalb Legal Tech mehr ist als ein Effizienzthema: nämlich ein Beitrag zur Stärkung der Demokratie.
Vom Rechtsstudium zur Legal Tech-Vorreiterin
Nach ihrem Studium der Rechtswissenschaften in Wien und einer internationalen Karriere in Berlin und London kehrte Martinetz 2017 in ihre Heimatstadt zurück. Dort gründete sie Future-Law, ein Beratungs- und Innovationsnetzwerk, das sich auf Legal Tech im deutschsprachigen Raum spezialisiert. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem als Woman of Legal Tech 2020 und European Tech Woman Award-Gewinnerin.
„Juristerei ist Text – und KI versteht Sprache“
Warum also eignet sich KI besonders gut für die Rechtsbranche? Für Martinetz liegt die Antwort auf der Hand: „Juristerei ist Text – und KI-Language Models funktionieren am besten mit Sprache.“ Der revolutionäre Aspekt liege darin, dass sich in der Textverarbeitung seit Jahrzehnten wenig getan habe, während generative KI nun riesige Text- und Datenmengen verständlich aufbereiten könne. So verschaffe sie Jurist:innen einen erheblichen Produktivitätsgewinn.
Ein Beispiel: Längere Schriftsätze oder Verträge lassen sich heute binnen Sekunden zusammenfassen. Das ersetze zwar nicht die juristische Prüfung, ermögliche aber einen schnellen Überblick. „Früher lagen Millionen von Dokumenten ungenutzt auf Servern. Heute hilft KI beim Suchen – und, noch wichtiger, beim Finden“, sagt Martinetz. Studien zufolge verbringen Wissensarbeiter:innen bis zu neun Stunden pro Woche mit Informationssuche – eine Zeit, die KI nun drastisch verkürzt.
Effizienz in Kanzlei und Rechtsabteilung
Die Automatisierung einfacher Tätigkeiten führt auch zu strukturellen Veränderungen: Wo früher vier Assistenzen einer Partnerin zuarbeiteten, teilen sich heute mehrere Partner:innen eine Assistenz. „KI ersetzt viele administrative Aufgaben wie das Aufbereiten juristischer Texte für Fachabteilungen oder das Interpretieren von Urteilen“, erklärt Martinetz. Wichtig sei jedoch, dass die Technologie die juristische Denkarbeit nicht ersetze – sie schaffe vielmehr Freiraum für anspruchsvolle Tätigkeiten.
KI als Sparringspartnerin für Argumentation und Strategie
Besonders spannend findet Martinetz die Fähigkeit der KI, Argumente zu generieren: „Ich kann sie bitten, mir Gegenargumente zu liefern – etwa sieben Argumente gegen ein bestimmtes juristisches Vorgehen.“ So werde die juristische Diskussion beschleunigt und vertieft, ohne dass die menschliche Urteilskraft an Bedeutung verliere.
Darüber hinaus könne KI beim Business Development helfen – etwa durch das intelligente Auslesen von Metadaten, das Strukturieren von Akten oder durch den Einsatz im Marketing und Personalwesen. „Aber Achtung“, warnt Martinetz, „KI ist nicht dazu da, Personalentscheidungen zu treffen. Sie unterstützt, sie entscheidet nicht.“
Digitalisierung verbessert Mandantenservice
Auch im Kontakt mit Mandant:innen verändert KI Prozesse nachhaltig. Viele Formalitäten wie das Einreichen von Dokumenten oder Identitätsprüfungen lassen sich heute digital erledigen. Das spare Zeit und mache den Kanzleikontakt komfortabler. „Hier geht es um digitale Services im Sinne der Mandanten“, so Martinetz.
Selbstbewusste Mandant:innen – und das Risiko des „Net-Doktor-Syndroms“
Wie Ärzt:innen erleben auch Anwält:innen zunehmend, dass Mandant:innen mit vorgefertigten Meinungen aus dem Internet kommen: „‚ChatGPT hat gesagt, ich bekomme 80.000 Euro‘ – solche Sätze hören wir immer häufiger.“ Für Martinetz ist das aber kein Nachteil, sondern ein Schritt zu mehr Rechtsbewusstsein: „Es ist gut, wenn Menschen selbstbewusster mit ihrem Recht umgehen.“ Dennoch bleibe juristische Aufklärung notwendig, um falsche Erwartungen zu korrigieren.
Sie verweist auf eine Umfrage, nach der 70 Prozent der Deutschen angeben, nie zum Anwalt zu gehen – vor allem aus Angst vor den Kosten. „Das ist gefährlich, denn der freie Zugang zum Recht ist ein Fundament der Demokratie. Wenn Menschen das Gefühl haben, dass sie ihr Recht nicht durchsetzen können, schwächt das die Teilhabe am Rechtsstaat.“
Neue Geschäftsmodelle und Generationenfragen
Mit der Digitalisierung stellt sich auch die Frage nach der Bezahlung juristischer Arbeit neu. „Das Stundensatzmodell ist vielerorts überholt“, so Martinetz. Große Kanzleien seien bereit, den Wert der Arbeit stärker als Maßstab zu nehmen, kleinere hingegen fürchteten Einnahmeverluste – und zögerten deshalb, KI-Lösungen einzusetzen. „Doch wer das tut, riskiert, den Anschluss zu verlieren.“
Die Expertin sieht außerdem eine Generationenfrage: Ältere Jurist:innen täten sich oft schwer mit der neuen Technologie, während der Nachwuchs zwar technikaffin, aber auf Erfahrung und Wissen der Älteren angewiesen sei. „Nur wenn beide zusammenarbeiten und Anwendungsfälle gemeinsam entwickeln, kann Legal Tech sein volles Potenzial entfalten.“
Fazit
Für Sophie Martinetz ist klar: Die generative KI wird bleiben – und sie verändert das juristische Arbeiten tiefgreifend. Doch sie ist keine Bedrohung, sondern ein Werkzeug, das Jurist:innen produktiver, präziser und demokratischer machen kann. Entscheidend sei, den Wandel aktiv zu gestalten und die menschliche Urteilskraft als zentrale Ressource zu bewahren. „Gerade im Zeitalter der KI werden Menschen mit Erfahrung und Wissen noch wichtiger werden.“
Sophie Martinetz
s.martinetz@future-law.at, 06649747272