Legal, Compliance & Legal Tech – bin ich schon (mitten)drin, oder was?  

Lesezeit: 12 Minuten


Ein Erfahrungsbericht von Michael Stelzel 

Ein Morgen voller Kontraste: Vom zu warmen Kaffee in den kalten Regen 

Begleiten sie mich auf eine Reise gemeinsam in den Tag. Wir trinken morgens eine Tasse Kaffee, der eine Spur zu warm ist. Wir schreiten aus der Haustür hinaus. Der Regen wird vom Wind in unser Gesicht getragen – es ist kalt und wir sind jetzt nass. Wir fahren in der U-Bahn Richtung Büro – in der U-Bahn ist es eng, zu warm und wir sind von vielen Menschen umgeben. Die meisten blicken in ihr Smartphone oder in die Weite mit Musik in den Ohren. Wir erreichen unsere Station zum Aussteigen. Wir gehen von der Tiefe zurück an die Oberfläche mit Tageslicht zu dem Gebäude unserer Arbeitsstätte. Wir treffen das erste bekannte Gesicht und freuen uns über ein freundliches „Guten Morgen“.  

Von Anfangsschwierigkeiten zu einem versöhnlichen Start in den Arbeitstag 

Wir gehen zu unserem Arbeitsplatz, schalten den Laptop ein und warten bis alle Programme hochgefahren und die Bildschirme verbunden sind. Wir klicken den Button auf dem aufscheinenden Fenster, dass das Softwareupdate erst in acht Stunden gemacht werden soll. Während wir warten, dass sich die E-Mails laden, drücken wir „strg-alt-entf“ und gehen von unserem Arbeitsplatz zur Kaffeemaschine in der Küche. Warmer Kaffee füllt die Tasse und der Geruch frisch gemahlener Bohnen steigt uns in die Nase. Der Morgen wirkt nunmehr wieder versöhnlich. Wir sprechen mit zwei Kolleginnen, lachen und sind uns einig, dass das Wetter heute kein guter Begleiter war. Das ist die Realität. Das ist echt.  

Prioritäten im E-Mail-Dschungel: Eine dringende Anfrage rückt in den Fokus 

Wir kehren zurück zum Büroplatz. Die Emails sind geladen, das E-Mail-Postfach auf dem neuesten Stand eingegangener Nachrichten. Unsere Augen führen das erste Screening der E-Mails, die spätabends und frühmorgens eingetroffen sind, durch. Welche Nachrichten wichtig sind, ordnen wir nach Absender, Betreff oder Markierung als „wichtig“ ein. Eine E-Mail sticht in das Auge. Betreff: „Dringend-Transport über Russland möglich?“ Absender: Business Unit Leiter der größten Division im Unternehmen. 

Krisenmodus aktiviert: E-Mail enthüllt Engpass in der Lieferkette 

Wir öffnen die Nachricht, und steigen in die Problembeschreibung ein. Es gibt Schwierigkeiten in der Lieferkette. Unser Unternehmen steckt mitten in der Wertschöpfungskette zwischen Vorlieferant und Kunde. Der Kunde ist abhängig von unseren Bauteilen. Wir sind wiederum abhängig von einem einzigen Lieferanten, der jetzt allerdings seine Produktion abstellen musste – wir bekommen für längere Zeit keine Halbfertigteile. Wir müssen ausweichen auf einen anderen Lieferanten aus Indien. Der schnellste Weg: Über Russland nach Europa. Aber geht das? Was steht hier noch in der E-Mail – Meeting dazu in einer Stunde! 

Digitale Grenzüberschreitungen: Auf der Suche nach neuen Lieferwegen 

Auch das ist das echte Leben. Geographisch weit weg von unserem Arbeitsplatz, stellen sich Fragen eines internationalen Warenverkehrs mit unterschiedlichen Sollbruchstellen rechtlicher Schranken. Ein Blick auf eine Karten-App enthüllt den potenziell neuen Lieferantenstandort. Wir haben, obwohl wir nur virtuell über die Länder der digitalen Karten-App gewandert sind, ein wenig mehr Gefühl für die Situation. Nunmehr müssen wir uns aber von dem Gefühl lösen, und das Thema mit Fakten in Angriff nehmen.  

Wie war das doch gleich mit den Russlandsanktionen? 

Wir lassen die uns möglichen Wissensquellen vor unserem geistigen Auge vorbeiziehen: Klar, das EUR-lex. Hier sind die relevanten Verordnungen der EU veröffentlicht, die unmittelbar Rechtswirkung in jedem Mitgliedsstaat der EU entfalten. Aber welche Verordnung war das noch einmal, die hier gilt? Wir werfen schnell die Internetsuchmaschine an. Fünf Minuten sind vergangen. Der Suchradius ist nunmehr auf zwei Verordnungen eingekreist. Wir sind stolz auf uns.  

Aber die hunderten Seiten langen Verordnungen nunmehr durchlesen? 

Noch dazu gibt es keine konsolidierten Fassungen – die aktuellen Änderungen des letzten Sanktionspaketes der EU sind noch nicht als eine zusammengeführte Fassung wiedergegeben. Wieder einmal nicht. Wir ärgern uns ein wenig.  

Stattdessen sehen wir viele aneinandergereihte Stakkato-Sätze, die so lauten: „Halbsatz sowieso wird gestrichen“ oder “Artikel X Absatz y lit d Satz 1 lautet nunmehr wie folgt.: …“ Viele keine Rätselhappen, aber keine zusammenhängenden Sätze.  Tempus fugit! Für die Besprechung braucht es zumindest eine Ahnung, was man als Compliance-Abteilung dazu sagen kann. Wir setzen die Suchfunktion ein, aber die Beantwortung der Frage mag uns nicht gelingen. 

Wir steigen auf eine schnelle Recherche in einem Chatbot um 

„Darf man aus Indien über Russland nach Europa Waren importieren?“ Die Antwort lautet: „Die EU hat seit dem Ausbruch des Ukrainekrieges am 24.2.2022 umfangreiche Sanktionen gegen Russland und Belarus verhängt. Ziel der Sanktionen ist es …. Transporte über Russland sind verboten.“ Nach mehreren Zeilen haben wir eine kurze Geschichtsstunde und eine sehr eindeutige Antwort erhalten. War das zu einfach und stimmt die Antwort? Unsere innere Stimme lässt uns zweifeln und verbindet sich mit unserem Langzeitgedächtnis.  

Das war doch dieses Online-Seminar vor einem halben Jahr 

Da war doch nur von Flugzeugen und Schiffen die Rede. Vielleicht auch von LKWs. Stimmt die Antwort also? Wo waren denn noch einmal die Unterlagen des Seminars? Aufgezeichnet worden ist es nicht. Aber Unterlagen – ja Unterlagen gab es zum Download – nur gesichert mit einem einfachen Passwort. Das Passwort von damals? – keine Ahnung mehr, nicht einmal im Ansatz, wie es gelautet hat oder wo es ist? Im letzten halben Jahr waren unzählige andere passwortgesicherte Logins notwendig. Aber die Seminarpräsentation mit den einprägsamen Schiffs-Flugzeug und LKW-Symbolen haben wir doch runtergeladen, aber wo ist die noch einmal?  

Ach, da war ja privat was, parallel. Über Social-Media am Handy. Eine zweiminütige Unaufmerksamkeit in der virtuellen Parallelwelt. Aber das war vielleicht lustig, der kurze Austausch über Social-Media. Leider stellen wir nunmehr reuig fest, dass es genau die falschen zwei Minuten waren, die wir uns der Ablenkung hingegeben haben. Zurück zur Präsentation. Die wollten wir uns doch direkt nach Erhalt in unsere abteilungsinterne Knowledge Datenbank speichern. Wir schauen schnell dort hinein, in die Folder unseres Laufwerkes. Nein, nein, wieder nein. Ach herrje, nichts haben wir abgespeichert. In der Präsentation wäre sicher mehr gestanden und zumindest ein Verweis auf die richtigen EU-Normen, wo wir mehr nachschlagen und herausfinden hätten können.   

Es hilft nichts – die Zeit läuft, und das virtuelle Meeting naht 

Wo kann die Lösung gefunden werden? Das papierlose Büro mit Desksharing hat die Bücher und Zeitschriften in ein ungeordnetes Archiv wandern lassen. Und auch nur die, die nicht die Reise in den Papiercontainer antreten mussten. Und wann haben wir das letzte Mal Bücher oder Zeitschriften in Printfassung bestellt? Einige wenige, vereinsamte Exemplare, vielleicht. Da liegen sicher noch ein paar in den Kästen. Aber sicher noch nicht zu dem Thema der in den letzten Jahren verschärften Sanktionen. 

Zwischen Hoffnung und Realität: Die Suche in der Rechtsdatenbank 

Also suchen wir in einem neuen Anlauf unter dem Druck eines sich stetig verengenden Zeitfensters die Rechtsdatenbanken auf, die wir abonniert haben. Wir geben einige Stichwörter ein und durchsuchen die Ergebnisse. Tatsächlich es zeichnen sich Treffer ab. Es dürfte dazu etwas publiziert worden sein. Wir lesen den ersten Artikel quer, wir überfliegen den zweiten Artikel, und wir hüpfen im dritten Artikel nur noch mit dem Augenpaar über die Überschriften – wir haben kaum noch Zeit. Wir gleichen die gefundenen Inhalte noch einmal mit dem Wortlaut der E-Mail ab. Ja, leider, so ganz passt hier nichts. Aber einen Ansatzpunkt haben wir hier zumindest gefunden. Die Frage kann zwar noch nicht präzise beantwortet werden, aber zumindest haben wir ein großes Bild reflektiert und zur Not können wir in dem Meeting versuchen, elegant mit Umschreibungen und Fachausdrücken zu arbeiten. Aber richtig wohl fühlen wir uns so noch nicht.  

Wir erinnern uns an die Legal Tech Konferenz im vorherigen Jahr 

Dort waren zahlreiche Aussteller und Rechtsdatenbankanbieter. Wir erinnern uns an ein Gespräch mit einer Dame aus dem Business Development eines Rechtsdatenbankanbieters und unsere Frage: 

 „Wird es in Zukunft so sein, dass man eine Frage in die Rechtsdatenbank eingibt und auf Basis aller vorhandenen Daten in Form von wissenschaftlichen Arbeiten, Artikel, Büchern, Judikaten, Gesetzen, Verordnungen, Richtlinien eine Antwort auf die konkrete gestellte Frage bekommt?“ „Ja, das wird kommen – bald sogar.“  

Gedankenspiele über eine nahende Zukunft 

Wir denken uns: Welch eine Erleichterung, welch ein Quantensprung wird das sein! Konkrete Fragen stellen und konkrete Antworten bekommen – natürlich beschränkt durch die Quantität und Qualität der Datenbasis. Wahrscheinlich brauchen wir dann mehrere Rechtsdatenbankanbieter, falls diese überhaupt alle ähnlich schnell mit einem ausgereiften Produkt am Markt sind. Konkret muss das dann aber auch heißen, dass wenn wir eine Frage stellen, wir auch eine Negativantwort erhalten müssen, wenn die Frage nicht beantwortet werden kann – im Sinne von „Zur Beantwortung Ihrer Frage gibt es noch nicht genug veröffentlichte Ausführungen.“ Wahrscheinlich wird die negative Antwort dann gleich mit einer positiven Frage verknüpft: „Wollen Sie beitragen unser Wissen gemeinsam zu erweitern und dazu zu publizieren – dann wenden Sie sich doch an unseren….“  

Wir ertappen uns, dass wir nunmehr gedanklich in eine (nahe?) Zukunftsvision abgetaucht sind – im Hier und Jetzt haben wir die Möglichkeit (noch) nicht. Uns fehlt noch immer ein ausreichendes Wissensset, um unser Unbehagen zu besänftigen. 

Von der Dunkelheit ins Licht: Ein Newsletter als Rettungsanker 

Jetzt kommt etwas aus der Tiefe unseres Gedächtnisses hervor – ähnlich wie bei der U-Bahn Ausstiegsstelle am Morgen steigen wir voller Hoffnung in die Höhe zu dem Licht, das unsere Schatten auszuleuchten vermag. Im Meer der E-Mails war doch ein Newsletter eines Anwaltes, der profundes Wissen zu den Themen Sanktionen hat. Das kann die rettende Boje für uns sein. Warum denken wir erst jetzt daran? Wir suchen die E-Mail – die Suchfunktion findet unter den Stichworten die konkrete Nachricht aber nicht. Nächster Versuch – neue Stichworte – wieder nichts. Dritter Versuch: Jetzt hat es funktioniert. Wir haben den Newsletter am Schirm. 

Wir überfliegen die Absätze des Newsletters und finden tatsächlich zwei Sätze zu Transportbeschränkungen: Flugzeuge sind keine Option. Schiffe auch nicht. Aber es steht nichts ganz Konkretes zu LKWs und zum Bahntransport durch das Land – komisch, warum eigentlich nicht? Im Angesicht des zerrinnenden Zeitfensters, aber eine bloße Luxusfrage. Aber wir haben das Gefühl unserem Ziel nunmehr sehr nahe kommen zu können. 

Wir rufen den Verfasser des Newsletters, einen befreundeten Anwalt an. Wir lassen es läuten, und warten. Vier Töne, fünf Töne, sechs Töne. Wir bereiten unsere Frage währenddessen im Kopf vor, und als wir die Fragen fertig zurechtgelegt haben, ertönt die Mailbox. Wir erreichen den Anwalt nicht.  So knapp vor dem Ziel. 

Noch sieben Minuten bis zum Online-Meeting. Parallel sind acht neue E-Mails sowie zwei Anrufe von Kolleg:innen und einer unbekannten Nummer eingegangen. Wir haben jetzt keine Zeit für die anderen. Wir brauchen noch die letzten 20% Wissen, die unsere fundierte Ahnung zu einem konkreten Wissen vervollständigen. 

Gegen alle Widrigkeiten: Ein entscheidender Anruf rettet das Meeting 

Es läutet. Der Rückruf. Wir sind erleichtert. Wir schildern dem Anwalt gleich nach dem Austausch der Mindestformen an Höflichkeiten unsere Frage, machen einen Hinweis auf den Newsletter und betonen die bestehende Dringlichkeit. Die Antwort des Anwaltes kommt prompt – ohne Zögern, ohne „Es kommt darauf an“, ohne vorheriges „Zur Beantwortung der Frage muss erst einmal geklärt werden….“  

Wir haben die Antwort. Die Danksagung und Verabschiedungsformeln fallen daher doppelt so lange aus, wie die Begrüßung vor fünf Minuten. Wir spüren echte Erleichterung und Emotion. Und in diesem Gefühlszustand blinkt auf unserem Bildschirm bereits auf, dass das Meeting beginnt, und ein Signalton ruft uns zum virtuellen Besprechungstisch. Wir haben es geschafft – wieder einmal und in letzter Sekunde. Das Meeting ist nach guten 20 Minuten beendet und wir konnten den Kolleg:innen eine profunde Hilfestellung geben, damit echte Waren ihre Reise durch die Welt antreten können. 

Digitale Grenzen, menschliche Erfolge: Ein Moment der Ruhe und Reflexion – Gedanken über die Natur unserer Problemlösungen. 

Auch das ist die Realität. Kein Buch. Keine Zeitschrift. Keine Antwort eines Chatbots auf unsere Prompt-Eingabe, die unsere Frage(n) hätte beantworten können. Keine Antwort der Suchmaschine, die uns wirklich weitergeholfen hat. Und ein digital zur Verfügung stehender Originalverordnungstext, aus dem wir die Antwort nicht schnell haben ableiten können, die wir für reale Fragestellungen brauchten.  

Wir blicken aus dem Fenster. Es regnet noch immer, aber die ersten Sonnenstrahlen schneiden sich durch die Wolkendecke und erwärmen unser Gesicht. Wir schließen die Augen für einen Moment. Der Druck ist abgefallen. Wir atmen durch. Als wir die Augen wieder öffnen, fragen wir uns: Haben wir die Aufgabenstellung eigentlich digital gelöst oder nicht? Haben wir die Fragestellung überhaupt selbst gelöst, oder haben wir bloß einen Lösungsweg erarbeitet? Oder ist das dasselbe? Oder zumindest gleichwertig? Wie wird unser Arbeitsalltag in der Zukunft aussehen, wenn wir morgens im Home-Office oder im Büro wieder eine solche Frage in unserer E-Mail-Eingangsbox finden?  

Autoreninfo: Dr. Michael Stelzel, M.A., CSE, ist Head of Compliance bei HOERBIGER 

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