Die 30-Stunden-Woche in der Rechtsbranche

Kürzere, flexiblere Arbeitszeiten und 30-Stunden-Wochen werden immer stärker verlangt und angeboten. Doch was sind die Benefits dieser neuen Work-Life-Balance? Was sind die möglichen Risiken? Und wie kann dieses neue Arbeitskonzept in der Welt von Anwälten und Juristen funktionieren? Weltweit haben Arbeitgeber:innen unterschiedliche Ansprüche und Vorstellung der wöchentlichen Arbeitsstunden von Angestellten. Aus Statistiken der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) geht hervor, dass 2021 in den Niederlanden mit 30 Stunden die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit im Europavergleich am kürzesten ist. In Portugal hingegen ist sie mit 40 Stunden am längsten, während sich Österreich, Belgien und Deutschland mit 35 Stunden im Mittelfeld bewegen. Diesbezüglich ist Mexiko mit 45 Wochenstunden einer der globalen Spitzreiter. Mehr dazu hier. Zuletzt lies auch Amazon aufhorchen, das erfolgreichste Konsumgüterunternehmen der Welt, als es bekannt gab ein 30-Stunden-Woche anbieten zu wollen. Die Beschäftigten stimmten hierfür einer Lohnkürzung von 25 Prozent zu, konnten aber alle Sozialleistungen behalten und versprachen sich dadurch flexiblere Arbeitszeiten. Auch Big-Player wie Deloitte und Google haben die komprimierte Arbeitswoche für sich entdeckt und wollen ihren Angestellten mehr Work-Life-Balance bieten. Der Ursprung der 40-Stunden-Woche Populären Erzählung zufolge stammt die Idee der 40-Stunden-Woche vom walisischen Industriellen und Arbeitsrechtsaktivisten Robert Owen, der das Konzept von 8 Stunden Arbeit, 8 Stunden Freizeit und 8 Stunden Schlaf pro Tag, erstmals bekannt machte. Diese Idee setzte sich danach auch in Amerika durch, als Präsident Roosevelt, mit der New-Deal-Politik, die 40-Stunden-Woche zum Standard machte. Die Idee der 30-Stunden-Woche Technologische Modernisierungen, Digitalisierung und betriebliche Effizienzsteigerungen haben teils dazu geführt, dass für menschliche Arbeitsleistungen vergleichsweise weniger Arbeitszeit benötigt wird. Dieser Meinung war auch der britische Ökonom John Maynard Keynes. Er stellte 1930 die These auf, dass Arbeitnehmer in 100 Jahren nur noch 15 Stunden pro Woche arbeiten müssten. Nach 90 Jahren scheint sich seine Vorstellung langsam zu verwirklichen, wenn man beobachtet, dass immer mehr Unternehmen eine 4-Tage- bzw. eine 30-Stunden-Woche anbieten. Vor- und Nachteile der 30-Stunden-Woche Millennials, welche mittlerweile den Großteil der Arbeitskräfte ausmachen, können mit kürzeren Arbeitszeitmodellen besser angeworben werden. Diese Generation soll mehr Wert auf eine ausgewogene Work-Life-Balance legen als auf eine totale berufliche Hingabe. Mit einer 30-Stunden-Woche könnte man auch Eltern ansprechen, die sich der Herausforderung einer Karriere mit gleichzeitiger Haushaltsführung stellen wollen. Eine kürzere Arbeitswoche reduziert zudem die Wahrscheinlichkeit von Burnout oder Krankheitsfällen unter Angestellten, da diese dadurch mehr Zeit gewinnen, sich zu erholen und ihre Freizeit zu genießen. Allerdings kann eine 30-Stunde-Woche für Arbeitgeber:innen auch die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass für mehr geleistete Arbeitszeit auch Überstunden bezahlt werden müssen, sofern man nicht genügend Mitarbeiter:innen zur Bewältigung des gesamten Arbeitspensums eingestellt hat. Man sollte außerdem nicht außer Acht lassen, dass viele Menschen gerne arbeiten und auch mehr verdienen wollen. Sollte sich ihr Lohn entsprechend einer kürzeren Arbeitszeit verringern, sinkt somit auch ihr Einkommen. Wenn der Lohn dabei aber gleich bleibt, steigen damit auch die Kosten der Arbeitsstunden für Betriebe erheblich, wodurch deren Wettbewerbsfähigkeit leiden kann. Die 30-Stunden-Woche in der Rechtsbranche Auch in Rechtsabteilungen und Anwaltskanzleien wird die 30-Stunden-Woche immer öfter thematisiert und angeboten. Noch ist nicht ganz klar, welche Vor- und Nachteile sich branchenspezifisch für Juristen dadurch ergeben und wie eine 30-Stunden-Woche in der Rechtsbranche funktionieren kann. Um diesbezüglich mehr Licht ins Dunkle zu bringen, haben wir Regina Braunsteiner - Director Management-Board Administration & Law bei Sprecher Automation GmbH sowie den Anwalt Christian Nordberg von der österreichischen Rechtsanwaltsgesellschaft Hule Bachmayr-Heyda Nordberg befragt. Regina Braunsteiner Christian Nordberg Redaktion: Hat die Globalisierung und Digitalisierung in der Rechtsbranche dazu beigetragen, eine 30-Stunden-Woche zu ermöglichen? Braunsteiner: Sowohl Globalisierung als auch Digitalisierung haben in den letzten Jahren dazu beigetragen, auch in der Rechtsbranche die bisherigen Arbeitszeitmodelle zu überdenken. Eine Verkürzung der Arbeitszeit ist eher dort möglich, wo juristische Aufgabenbereiche aufgrund Digitalisierung dezentralisiert bzw. spezialisiert werden können. Dies wird nicht für die gesamte Rechtsbranche möglich sein, sondern für Rechtsbereiche von Unternehmen, die eine Spezialisierung in ihren Arbeitsabläufen vornehmen können, z.B. Unternehmen, die vorwiegend prozess- und nicht projektgesteuert organisiert sind, Unternehmen, deren Rechtsbereich sich auf wenige Rechtsmaterien konzentriert, etc. Nordberg: Ja. Die Digitalisierung trägt zu einer deutlichen Flexibilisierung der Arbeitswelt bei. Das betrifft nicht nur den Zeitaufwand, sondern auch den Arbeitsort (Stichwort: Home-Office). Wir führen in unserem Unternehmen verstärkt die Möglichkeit von Home-Office ein, was bei unseren Mitarbeitern:innen sehr gut ankommt. Außerdem ist zu beobachten, dass wir bei uns im Unternehmen mittlerweile deutlich mehr Mitarbeiter:innen beschäftigen, die weniger als 40 Stunden in der Woche arbeiten. Die Modelle sind hier sehr unterschiedlich. Das geht von einem klassischen Halbtages-Job (5-Tages-Woche mit je 5 Stunden) bis zu einer 3-Tages-Woche mit 10 Stunden pro Tag – je nach Präferenz des betreffenden Mitarbeiters. Es ist ein klarer Trend zu beobachten, dass es deutlich mehr Jobs gibt, die nicht mehr starr an eine 40-Stunden-Woche gebunden sind. Redaktion: Eine Studie der Universität Melbourne zeigt, dass bereits ab einer Arbeitszeit von 25 Stunden pro Woche die kognitiven Fähigkeiten nachlassen: Kann man dies in der Rechtsbranche auch beobachten? Braunsteiner: Die Leistungsfähigkeit wird von kognitiven, fachlichen und emotional-sozialen Fähigkeiten sowie vom Grad der Zufriedenheit im Job beeinflusst. Kognitive Fähigkeit kann man messen, z.B. mit dem GMA (general mental ability) Test. Es ist realistisch, dass es ein „Tages- oder Wochenlimit“ gibt, ab dem die kognitive Fähigkeit ganz allgemein abnimmt. Wie lange kognitive Fähigkeit bei Jurist:innen aufrechterhalten werden kann bzw. ab wann sie nachlässt, wird von den individuellen vorherrschenden Umfeldbedingungen abhängen, in denen sich Jurist:innen bewegen, aber auch von der individuellen Persönlichkeit. Nordberg: Ich denke nicht, dass man das so verallgemeinern kann. Das Nachlassen kognitiver Fähigkeiten hängt sehr stark von der Belastung ab, die mit der jeweiligen Arbeit verbunden ist. Stressintensive Tätigkeiten führen früher zu einem Nachlassen von Konzentration und kognitiven Fähigkeiten. Hier ist es wichtig, dass es regelmäßig Pausen und Unterbrechungen gibt. Es gibt in unserer Kanzlei aber auch Tätigkeiten, die weniger stressbelastet sind. Redaktion: Eine verkürzte Arbeitszeit soll auch gesundheitliche Vorteile haben, denn die Mitarbeitenden sind seltener krank: Kann man dies auch selber bestätigen? Braunsteiner: Verkürzte Arbeitszeiten gehören zu den Trends, die die Arbeitswelt 4.0 prägen und stellen grundsätzlich eine Möglichkeit dar, die unternehmerischen Ausfallzeiten zu verkürzen. Manche Unternehmen gehen bereits dazu über, ein betriebliches Gesundheitsmanagement einzuführen. Fraglich ist, wie die verkürzten Arbeitszeiten genutzt werden. Maßgeblich zur Erlangung eines gesundheitlichen Vorteils im Arbeitsleben wird das Gesamtpaket sein. D.h. die Balance zwischen Arbeit und psychischem und physischem Ausgleich in der Freizeit. Nordberg: Eine verkürzte Arbeitszeit führt dazu, dass Mitarbeiter:innen über mehr Zeit verfügen, die sie anderweitig nutzen können. Das muss nicht unbedingt nur Freizeit sein. Es ist außerdem von Mitarbeiter:in zu Mitarbeiter:in durchaus unterschiedlich, wie sich eine verkürzte Arbeitszeit auswirkt und ob eine solche auch gewollt ist. Redaktion: Mitarbeiter:innen sollen durch eine 30-Stunden-Woche zudem produktiver und motivierter sein. Gibt es dazu persönliche Erfahrungen? Braunsteiner: In meinem juristischen Umfeld habe ich hierzu leider keine persönlichen Erfahrungen. Nordberg: Dazu gibt es noch wenig Erfahrungswerte und lässt sich so aus meiner Sicht nicht verallgemeinern. Es gibt zudem Jobs, die sich eher für eine 30-Stunden-Woche eignen, als andere. Im Transaktionsgeschäft (M & A) ist es beispielsweise schwieriger, eine starre 30-Stunden-Woche zu etablieren. In der heißen Phase einer Transaktion wäre es gegenüber unseren Klienten nicht leicht zu vertreten, wenn die eingearbeiteten Partner:innen und Mitarbeiter:innen nicht verfügbar sind. In anderen Bereichen lässt sich das deutlich leichter umsetzen. Redaktion: Was muss geschehen, um in der Rechtsbranche erfolgreich und langfristig eine 30-Stunden-Woche zu etablieren? Braunsteiner: Einerseits sollten unternehmerisch Digitalisierung und Spezialisierung in juristischen Aufgabenstellungen vorangetrieben werden, andererseits sind Jurist:innen gefordert, ihr persönliches Zeitmanagement zu hinterfragen, z.B. effektive Ziele mittels SMART Formel definieren. Nordberg: Ich denke, dass eine allgemeine 30-Stunden-Woche für jeden nicht unbedingt das Ziel sein muss. Wir richten uns hier sehr stark nach den Wünschen der Mitarbeiter:innen und dem, was machbar ist. Nicht jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin möchte 30 Stunden pro Woche arbeiten. Es gibt Mitarbeiter:innen, die mehr arbeiten wollen und auch Mitarbeiter:innen, die weniger arbeiten wollen. Für beides können wir ein Modell anbieten. Redaktion: Wird eine 30-Stunden-Woche auch als finanziell umsetzbar eingeschätzt? Braunsteiner: Zunächst wäre die Digitalisierung in einem Unternehmen finanziell und strukturell umzusetzen. Unternehmen, die dies schaffen und auch die oben erwähnte Spezialisierung mit Jurist:innen, die ein effizientes Zeitmanagement haben, ermöglichen, werden eine 30 Stunden Woche mit positiven Unternehmenszahlen, d.h. finanziell erfolgreich umsetzen können. Nordberg: Eine 30-Stunden-Woche ist finanziell sicherlich umsetzbar, solange die Produktivität ein messbares Kriterium ist. Die Interviews bestätigen, die 30-Stunden-Wochen und flexible Arbeitszeiten sind bereits in der Rechtsbranche angekommen und abhängig vom jeweiligen Tätigkeitsfeld in unterschiedlichen Varianten möglich. Ob alle Rechtsmitarbeiter in naher Zukunft nur noch maximal 30 Stunden pro Woche arbeiten, bezweifeln wir stark. Zudem konnte noch nicht bestätigt werden, dass Mitarbeiter:innen durch eine kürzere Arbeitswoche produktiver und motivierter sind. Allerdings zeigt sich, dass, um Fachkräfte zu gewinnen und im Unternehmen halten, individuelle Arbeitszeitmodelle ein erfolgversprechendes Mittel sind.

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