„Die Entscheidungen müssen von Menschen getroffen werden“ 

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Ein Interview mit Maria Nazari-Montazer 

Die Digitalisierung macht auch vor dem Justizsystem nicht halt. Maria Nazari-Montazer, Richterin am Arbeits- und Sozialgericht Wien, führt uns durch die technologischen Innovationen in der juristischen Arbeit Österreichs. In diesem Interview beleuchtet sie Chancen, Herausforderungen und den Einfluss von Legal Tech auf den Alltag im Gerichtssaal. Ein spannender Blick hinter die Kulissen einer sich wandelnden Justizlandschaft. 

Frau Nazari-Montazer, wie hat sich die Arbeit einer Richterin in Österreich durch die Digitalisierung und Legal Tech verändert? 

Ende der 90er Jahre war ich Rechtshörerin am Arbeits- und Sozialgericht Wien. Der Richter, dem ich damals zugeteilt war, hatte zwar einen Computer im Zimmer, aber erst seit kurzem. Er brauchte ihn für seine Arbeit nicht und verwendete ihn deshalb kaum. Die richterliche Arbeitsweise war noch sehr analog. Die EDV wurde eher im Kanzleibereich oder von Schreibkräften verwendet.  

Die Digitalisierung brachte enorme Veränderungen. 2016 begann das Projekt „Justiz 3.0“. Heute arbeite ich fast vollständig digital. Bald werden alle Gerichtsakten in Österreich digital geführt werden. Es gibt eine Möglichkeit zur Anonymisierung von Entscheidungen, die KI-unterstützt ist. Es gibt intelligente Recherchetools, Spracherkennung, Möglichkeiten zur Arbeit im Home-Office mit VPN-Einstieg, Zoom-Verhandlungen und vieles mehr. Vor allem im Zuge der Pandemie beschleunigte sich die Entwicklung in Richtung digitales Arbeiten noch zusätzlich.  

Welche digitalen Tools oder Technologien nutzen Sie in Ihrem täglichen Arbeitsablauf, um die Effizienz und Genauigkeit Ihrer Entscheidungen zu verbessern? 

Ich nutze verschiedene Rechercheplattformen, und ich arbeite auch gerne mit Spracherkennung. Außerdem nutze ich täglich den digitalen Justizarbeitsplatz (DJAP), der verschiedene Tools enthält. Ich habe einen digitalen Zugriff auf das Aktensystem, in dem ich alle meine Akten schön übersichtlich aufrufen kann. Es gibt ein Task-Management, über das ich mit meiner Kanzlei kommuniziere. Der entscheidende Vorteil ist, dass digitale Akten immer und überall zur Verfügung stehen. Die Papierakten musste ich oft suchen, wenn jemand anrief. Manchmal waren sie nicht greifbar, wenn sie sich gerade bei einem anderen Gericht oder einem Sachverständigen befanden.  

Es erhöht die Effizienz deutlich, wenn jeder, der mit dem Akt zu tun hat, in Echtzeit auf den aktuellen Inhalt zugreifen kann. Man kann dann auch nicht so leicht in der Arbeit blockiert werden, sondern kann einfach weiterarbeiten, auch wenn noch andere in dem Akt zu tun haben. 

Vieles im Verfahren geschieht schon dadurch viel schneller, dass elektronisch kommuniziert wird und ich nicht tagelang auf die Übermittlung von Informationen oder das Weitertragen des Aktes warten muss. Immer mehr Daten, Namen, Adressen, Kontonummern, oder ganze Berechnungstabellen, kann man automatisiert einfügen. So können einfache Fehlerquellen vermieden werden. Für die Effizienz und Genauigkeit des rechtlichen Inhalts meiner Tätigkeit gibt es kein Tool, die muss ich selbst schaffen. Aber mit einer guten technischen Ausstattung und Unterstützung ist die Arbeit besser zu bewältigen. 

Ich verwende auch gerne E-Mail. Fast alle Mitteilungen meines Dienstgebers kommen auf diesem Weg. Allerdings können wir in der Rechtsprechung zukünftig aufgrund von Sicherheitsbedenken die dienstlichen E-Mails nicht mehr am privaten Mobiltelefon abrufen. Das finde ich schade, denn für kurzfristige Mitteilungen, zum Beispiel für Terminkoordinationen oder einfache Rückfragen, war das sehr hilfreich.  

Gibt es spezielle Schulungen oder Schulungsprogramme für Richterinnen in Bezug auf digitale Technologien und Legal Tech-Anwendungen? 

Ja, wir haben ein ausgezeichnetes Aus- und Fortbildungsprogramm mit Schulungen zu allen für die Arbeit notwendigen Themen, auch abseits der Technologie. Für einige technische Anwendungen gibt es in unserem Intranet nach Themen sortierte Schulungsvideos.  

Wesentlich ist zusätzlich ausreichender IT-Support für den – leider immer wieder auftretenden – Fall, dass verschiedene Anwendungen nicht so funktionieren, wie sie sollen. Es ist wichtig, dass ich jemanden anrufen kann und sofort Unterstützung bekomme, wenn in einer Gerichtsverhandlung die Technik nicht funktioniert. Zum Glück haben wir am Arbeits- und Sozialgericht Wien einen ausgezeichneten IT-Spezialisten, den ich immer fragen kann. 

Als Standesvertreterin setze ich mich in meiner Arbeit für die Richter:innen-Vereinigung laufend dafür ein, dass alle Gerichte ausreichenden IT-Support bekommen. Das ist leider nicht immer selbstverständlich. Der „gute“ Support hört nämlich meist schon um 15:30 Uhr auf oder ist bei kleineren Einheiten räumlich weit weg. 

Wie sehen Sie die Auswirkungen von Künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen auf die juristische Arbeit und die Entscheidungsfindung bei Gericht? 

In meiner täglichen Arbeit sehe ich noch keine besonderen Auswirkungen. Ich habe gelesen, dass es in Deutschland und auch in Österreich in einzelnen Bereichen automatisch erstellte Bescheide gibt, die KI-unterstützt erstellt werden. Im Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit halte ich es für essentiell, dass die Entscheidungen von Menschen getroffen werden.  

Künstliche Intelligenz wird in der Rechtsanwendung in Teilbereichen bereits eingesetzt, zum Beispiel bei Recherchetools und bei der Anonymisierung von Entscheidungen. Ich glaube, dass es in Zukunft noch mehr Anwendungsbereich für KI geben kann, zum Beispiel bei der Vorbereitung von verschiedenen Texten.  

Es ist aus meiner Sicht wichtig, über die Art und Weise des Einsatzes künstlicher Intelligenz gut nachzudenken, bevor entsprechende Systeme implementiert werden. Die Europäische Ethikcharta für den Einsatz künstlicher Intelligenz in Justizsystemen hat die wesentlichen Punkte gut festgehalten: Es muss ein transparentes, faires System sein, die Grund- und Menschenrechte müssen gewahrt bleiben, vor allem der Schutz vor unsachlicher Diskriminierung. Der menschliche User muss immer informiert bleiben und die Kontrolle darüber haben, was geschieht. Die Entscheidungen müssen am Ende von Menschen getroffen werden. Auch Datenschutz und Geheimhaltungsinteressen muss man bedenken. 
 
Welche Vorteile sehen Sie in der Verwendung von Legal Tech, und gibt es auch Herausforderungen oder Bedenken, die Sie in Ihrem Berufsumfeld beobachtet haben? 

Die Vorteile liegen auf der Hand. Auch im Rechtsbereich kann Technologie das Arbeiten und damit das Leben leichter machen. Ich habe überwiegend gute Erfahrungen mit Legal Tech, vor allem, wenn alles so funktioniert wie es soll. 

Bedenken gibt es immer dann, wenn wegen einer Technologie die Dinge unnötig kompliziert werden. Auch das kommt immer wieder vor, bzw. wird es im Zuge von Umstellungen häufig so erlebt. Die Herausforderungen liegen dann darin, sich dafür einzusetzen, dass alles wieder gut läuft. Auch hier gibt es in meinem Tätigkeitsbereich noch Potential zu Verbesserungen. Das Motto muss sein, dass die Technik dem Menschen dienen soll und nicht umgekehrt. 

Können Sie Beispiele für Fälle oder Situationen teilen, in denen die Nutzung digitaler Technologien dazu beigetragen hat, rechtliche Fragen effektiver zu lösen? 

Jeder Rechtsanwender verwendet digitale Technologien für die Rechtsrecherche, sei es über die verschiedenen kommerziellen Rechercheplattformen, oder über das Rechtsinformationssystem des Bundes (RIS). Eine elektronische Suchfunktion ist einfach unschlagbar. Seit der Möglichkeit der automatisierten Anonymisierung stehen jetzt justizintern noch mehr Entscheidungen, vor allem der Oberlandesgerichte, zur Verfügung, die österreichweit durchsucht werden können. Das hilft schon sehr. 

Ich finde auch Justiz Online sehr gelungen. Es gibt hier einen direkten Zugang zu den meisten Formularen und eine niederschwellige Möglichkeit für Verfahrensbeteiligte, ihre Akten einzusehen oder Eingaben zu machen. 

Wie wird die Privatsphäre und Datensicherheit in Ihrem Berufsfeld im Zusammenhang mit digitalen Daten und Technologien gewährleistet? 

Die Datensicherheit ist bei uns sehr hoch. Das Bundesrechenzentrum leistet ausgezeichnete Arbeit. Außerdem gibt es das Amtsgeheimnis. Wer Zugriff auf welche Akteninhalte hat, ist genau definiert. Es war im Gerichtsverfahren schon immer die Grundregel, dass nur den Verfahrensparteien die Akteneinsicht offensteht. Ich halte das auch für richtig, vor allem wenn es um sensible Informationen geht, zum Beispiel um Daten zum Gesundheitszustand. 

Als Standesvertreterin interessiert mich natürlich auch, welche Daten von den Richterinnen und Richtern, die digital arbeiten, gespeichert werden und wie diese zugänglich sind. Dieser Punkt erzeugt in der Kollegenschaft – zu Recht – noch einige Skepsis.  
 
Welche Ratschläge würden Sie anderen Richterinnen und Rechtsanwälten geben, die sich mit dem Einsatz von Digitalisierung und Legal Tech in ihrer Arbeit auseinandersetzen? 

Ich würde raten, offen zu bleiben für Neues, und – soweit möglich – mitzugestalten, damit man möglichst viele der Vorteile der Digitalisierung für sich nutzen und an die eigenen Bedürfnisse anpassen kann. Ein weiterer Ratschlag wäre, Probleme gleich aufzuzeigen und – wenn erforderlich – hartnäckig zu bleiben, damit Lösungen entwickelt werden. 

Mag. Maria Nazari-Montazer ist Richterin am Arbeits- und Sozialgericht Wien und 3. Vizepräsidentin der Vereinigung der österreichischen Richterinnen und Richter.  

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